Exilmedien: Pfeiler globaler demokratischer Strukturen
„Die Presse muss die Freiheit haben, alles zu sagen, damit gewisse Leute nicht die Freiheit haben, alles zu tun.“
– Alain Peyrefitte, französischer Politiker und Autor
Der zunehmende Verfall demokratischer Strukturen zieht einen globalen Exodus von Journalist:innen aus autoritär regierten Ländern nach sich. Nie zuvor waren so viele Medien gezwungen, ihre Herkunftsländer zu verlassen, weil unabhängige Berichterstattung kriminalisiert wurde. Inzwischen sind Exilmedien in vielen Regionen die letzten Instanzen, die die zunehmende Autokratisierung in ihren Herkunftsländern sichtbar machen und den demokratischen Rückschritt dokumentieren. Wo die Aufrechterhaltung ihrer Stimmen im Exil misslingt, entstehen gefährliche Informationslücken, die von den totalitären Regimen systematisch mit Propaganda und Desinformation gefüllt werden.
REPRESSIONEN, VERFOLGUNG UND ZENSUR
In Russland kann bereits die Bezeichnung des Angriffskrieges als ‘Angriff’ oder ‘Krieg’ unter dem Vorwurf der Verbreitung von “Fake News” mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden. Seit Einführung des Gesetzes wurden laut der Plattform OVD-info knapp 1.200 Personen in Strafverfahren wegen Anti-Kriegs-Aktivitäten angeklagt. Ein ähnlich drakonisches Strafmaß droht belarussischen Staatsbürger:innen, die Kanäle als “extremistisch” eingestufter Medien abonnieren oder deren Inhalte verbreiten. Wer Inhalte teilt, riskiert bis zu 15 Tage Haft, wer an der Erstellung oder Leitung solcher Medien beteiligt ist, bis zu 10 Jahre Gefängnis. In Belarus wurden zwischen 2020 und 2024 mindestens 8.075 Personen wegen Verbreitung von „extremistischen“ Materialien verurteilt.
In rund der Hälfte aller Staaten werden die Arbeitsbedingungen für Journalist:innen von der Organisation Reporter ohne Grenzen mittlerweile als „schwierig“ oder „sehr ernst“ eingestuft. Wo aber unabhängige Stimmen verstummen, verliert die Gesellschaft die Möglichkeit, Machtstrukturen kritisch zu hinterfragen und die internationale Öffentlichkeit ihr Gedächtnis. Die nachhaltige Förderung von Exilmedien ist darum nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch eine strategische Investition in die Bewahrung demokratischer Strukturen weltweit.
EINE INVESTITION IN DIE ZUKUNFT DER DEMOKRATISCHEN WERTEORDNUNG
„Was die Herrschaft einer totalitären oder einer anderen Diktatur ermöglicht, ist, dass die Menschen nicht informiert sind; wie kann man eine Meinung haben, wenn man nicht informiert ist? Wenn man ständig belogen wird, ist die Folge nicht, dass man die Lügen glaubt, sondern dass niemand mehr irgendetwas glaubt.”
– Hannah Arendt, deutsch-US-amerikanische Theoretikerin und Publizistin
Die globale Freiheits- und Sicherheitsarchitektur setzt sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammen. Neben dem Ausbau diplomatischer Beziehungen und dem Aufbau militärischer Verteidigungsfähigkeit ist auch der Schutz freier, unabhängiger Medien ein Schlüssel für die nachhaltige Bewahrung demokratischer Strukturen. Indem sie Desinformationskampagnen entlarven und transnationale Repression sichtbar machen, tragen Exilmedien wesentlich dazu bei, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vor den hybriden Bedrohungen durch autoritäre Regime zu schützen.
In autoritär regierten Ländern sichern Exilmedien darüber hinaus den Zugang zu unabhängigen Informationen und wirken damit gezielt Propaganda, Zensur und staatlich gelenkter Desinformation entgegen. Indem sie alternative Sichtweisen und Fakten zugänglich machen, verhindern sie die Monopolisierung von Informationen durch autoritäre Machthaber:innen und stärken die zivilgesellschaftliche Resilienz gegenüber propagandistischen Narrativen.
Das zeigt sich exemplarisch in Belarus: Trotz rigider Zensur- und Repressionsmaßnahmen konsumieren knapp 40 % der Bevölkerung regelmäßig Inhalte unabhängiger Exilmedien. Davon wiederum stehen 94% dem Angriffskrieg Russlands ablehnend gegenüber. Was aber wird aus diesen Menschen, wenn ihr Zugang zu unabhängigen Informationen versiegt? Die Arbeit belarusischer Exilmedien trägt entscheidend dazu bei, in Teilen der Gesellschaft ein kritisches Bewusstsein lebendig zu halten – und schafft damit eine Grundlage dafür, Belarus wieder in eine europäische Sicherheits- und Werteordnung zu integrieren.
„Wir warten nicht darauf, dass die russischen Behörden die wahre Zahl der Kriegsopfer bekanntgeben. Stattdessen zählen wir manuell jeden gemeldeten Todesfall und durchkämmen Tausende von Social-Media-Seiten aus den kleinsten und abgelegensten Dörfern Russlands. Wir können nicht von der russischen Seite der Front berichten, aber wir finden Deserteure, die geflohen sind, und dokumentieren, was dort wirklich passiert.“
– Nikita Sologub, russischer Journalist im Exil
„Die Menschen, die in russischen Exilmedien arbeiten, sind mehr als nur eine Informationsquellen. Sie eint das Bekenntnis zu den Werten freier Medien, womit sie zu einem entscheidenden Verbündeten des Westens im Konflikt mit Putins Regime werden.”
– Izabella Tabarovsk, Kennan Institute (Übersetzung von JX Fund)
Auch in Russland tragen Exilmedien entscheidend zur Aufklärung über die Desinformationskampagnen des Kremls bei. In einer Recherche analysierte das Investigativmedium iStories gemeinsam mit dem Tagesspiegel Satellitenbilder von der Zerstörung ukrainischer Städte und leistete damit einen wichtigen Beitrag zu der auch rechtlich relevanten Dokumentation russischer Kriegsverbrechen. Das 2015 in Russland gegründete und nun exilierte Medium Mediazona wertete die Daten eines Kurierdienstes aus, um zu zeigen, wie geplünderte Güter aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland transportiert wurden. Und das größte russische Exilmedium Meduza veranschaulichte anhand geleakter Dokumente, wie russische Behörden gezielt Inhalte liberaler Stimmen manipulieren, um Desinformation zu streuen.
MEDIENMACHT IM GLOBALEN WANDEL
Gleichzeitig ist aus dem umfassenden Rückzug der USA aus der Förderung unabhängiger Medienorganisationen ein Vakuum entstanden, das bereits jetzt von chinesischen Staats- und Privatunternehmen genutzt wird, um ihre Propagandanetzwerke weltweit auszubauen. In Asien, Afrika und Lateinamerika verdrängen chinesische Kanäle zunehmend Programme westlicher Auslandsmedien und besetzen gezielt Sendeplätze, die zuvor von Voice of America oder Radio Free Asia genutzt wurden. Dieser Verlust an Reichweite demokratischer Stimmen schwächt nicht nur die Resilienz zivilgesellschaftlicher Akteure in den betroffenen Ländern, sondern verschiebt langfristig die globalen Deutungsmuster zugunsten autoritärer Systeme.
KREATIVE TECHNOLOGIEN UND INNOVATIVE GESCHÄFTSMODELLE
„When you investigate, report, and manage a critical media outlet under a totalitarian and crushing regime, journalists become a kind of juggler. We juggle emotional, economic, logistical, security, and self-censorship challenges. In other words, we keep publishing every single day while managing these fronts, which become even harder when you’re in exile.”
– Néstor Arce, Carlos Herrera & Wilfredo Miranda Aburto, exiled journalists from Nicaragua
„Wenn man unter einem totalitären und erdrückenden Regime recherchiert, berichtet und ein kritisches Medium leitet, werden Journalist:innen zu Jongleur:innen. Wir jonglieren mit emotionalen, wirtschaftlichen, logistischen und sicherheitsrelevanten Herausforderungen und selbst auferlegter Zensur. Mit anderen Worten: Wir veröffentlichen Tag für Tag weiter – und müssen dabei all diese Baustellen im Griff behalten, die im Exil noch schwerer wiegen.”
– Néstor Arce, Carlos Herrera & Wilfredo Miranda Aburto, exiled journalists from Nicaragua
Für die meisten Exilmedien ist der Kampf gegen Zensur und Propaganda keine neue Herausforderung, sondern eine Realität, auf die sie sich längst eingestellt haben. Die ständige Bedrohung durch autoritäre Regime zwingt sie dazu, ihre Arbeitstechniken kontinuierlich weiterzuentwickeln – sie integrieren Anti-Zensur-Technologien, sichern ihre Kommunikation gegen Hackerangriffe und entwickeln kreative Strategien, um trotz Blockaden ihre Leser:innen zu erreichen. Damit schaffen sie nicht nur Werkzeuge zum Schutz vor hybriden Bedrohungen wie Desinformationskampagnen oder digitaler Überwachung, sondern auch unkonventionelle Geschäftsmodelle, die neue Impulse für die gesamte Branche liefern.
Exilierte Fernsehsender wie Russlands TV Rain und Nicaraguas 100% Noticias mussten nach der Flucht aus ihrem Heimatland ihre gesamte Produktionsinfrastruktur aufgeben. Dennoch konnten beide Sender weiterhin über YouTube senden und kurze Nachrichtenbeiträge für soziale Medien produzieren, die speziell auf diese Plattformen zugeschnitten sind. Trotz der ständigen Bedrohung durch mögliche Plattformblockaden gelang es ihnen, ihre Zielgruppen weiterhin zu erreichen und die Zuschauer:innenbindung aufrechtzuerhalten.
Neben technischen Lösungen entwickeln Exilmedien auch kontinuierlich ihre Erlösmodelle weiter: The Frontier aus Myanmar kombiniert Freemium-Inhalte für die breite Öffentlichkeit mit Abonnementmodellen für exklusive Analysen und experimentiert mit Mitgliedschaften, um die Community einzubinden und Abhängigkeiten von Fördergeldern zu reduzieren. El Toque aus Kuba nutzt KI-gestützte Währungsrechner, um den für die Zielgruppe relevanten Wechselkurs anzuzeigen – ein einfacher, aber wirkungsvoller Service, der den Traffic auf der Webseite massiv steigert und gleichzeitig den Nutzen für die Leser:innen erhöht. Das russische Exilmedium Bumaga wiederum reagierte pragmatisch auf die Zensurmaßnahmen des Kremls und generiert inzwischen 15-17% seines Umsatzes aus dem Vertrieb eigener VPN-Dienste.
UNVERZICHTBARE PARTNER IN DER INTERNATIONALEN BERICHTERSTATTUNG
Exilmedien sind längst zu einem integralen Bestandteil der internationalen Medienlandschaft geworden. In vielen Regionen können Auslandskorrespondent:innen aufgrund von Repressionen, Bedrohungen oder eingeschränkter Pressefreiheit nicht mehr sicher recherchieren. Exilmedien hingegen verfügen weiterhin über verlässliche Kontakte und Quellen vor Ort und liefern so kritische Informationen, die sonst nicht mehr zugänglich werden. Durch Kooperationen mit internationalen Medien tragen sie zu faktenbasierter Berichterstattung bei, beugen Pauschalisierungen im öffentlichen Diskurs vor und tragen zur Aufklärung über Desinformationskampagnen bei.
So hat etwas das russische Exilmedium The Insider in einer Zusammenarbeit mit dem deutschen Medium Der Spiegel gehackte Dokumente von Offizieren des russischen Auslandsgeheimdienstes (SVR) ausgewertet, in denen Strategien für Desinformationskampagnen gegen den Westen beschrieben wurden. In einer daran anschließenden Recherchekooperation von The Insider, NewsGuard und CORRECTIV konnten daraufhin über 100 gefälschte Webseiten und Accounts identifiziert werden.
Der iranische Exiljournalist Omid Rezaee hat in der dreiteiligen Serie „Agenten der Angst“ gemeinsam mit Journalist:innen der Recherchegruppe STRG_F die Aktivitäten des iranischen Geheimdienstes in Deutschland nachgezeichnet und trägt damit zu einem tieferen Verständnis der Strategien transnationaler Repression und ihrer Auswirkungen auf demokratische Gesellschaften bei.
Auch syrische Exilmedien arbeiten eng mit internationalen Rechercheplattformen zusammen. In einer Mitte September veröffentlichten Investigation von Lighthouse Reports und Partner:innen wurde offengelegt, wie das Assad-Regime systematisch Kinder aus oppositionellen Familien entführte. Darüber hinaus engagieren sich unabhängige syrische Medien im Exil gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen dafür, nach Assad die Grundlagen für eine professionelle, pluralistische Medienlandschaft und eine langfristige Demokratisierung Syriens zu schaffen.
FINANZIERUNG UNABHÄNGIGER EXILMEDIEN
„Guaranteeing freedom, independence and plurality in today’s media landscape requires stable and transparent financial conditions. Without economic independence, there can be no free press. When news media are financially strained, they are drawn into a race to attract audiences at the expense of quality reporting, and can fall prey to the oligarchs and public authorities who seek to exploit them. […] The media’s financial independence is a necessary condition for ensuring free, trustworthy information that serves the public interest.“
– Anne Bocandé, Reporters Without Borders
Freiheit, Unabhängigkeit und Vielfalt in der Medienlandschaft setzen stabile und transparente finanzielle Rahmenbedingungen voraus. Trotz innovativer Ansätze ist dies für Exilmedien oft besonders schwierig: Der Konsum ihrer Inhalte wird in vielen Herkunftsländern kriminalisiert, wodurch Abonnement- und Mitgliedschaftsmodelle kaum tragfähig sind. Hinzu kommen strukturelle Hürden wie blockierte Webseiten, eingeschränkter Zahlungsverkehr und das Fehlen eines funktionierenden Werbemarktes. Darum sind sie vor allem in einer Übergangsphase auf externe Unterstützung angewiesen – von Anschubfinanzierungen über Förderprogramme bis hin zu Partnerschaften mit internationalen Institutionen.
Diese Förderung trägt langfristig dazu bei, freie und unabhängige Informationsräume zu bewahren und damit die Grundlagen einer demokratischen Werteordnung zu sichern. Die Unterstützung von Exilmedien ist darum kein bloßer Akt der Solidarität, sondern ein strategischer Beitrag zur globalen Freiheits- und Sicherheitsarchitektur.