Netzwerk-Recherche-Jahreskonferenz: Nah dran bleiben, ohne vor Ort zu sein

  • Juni 20, 2023
  • News

Wie funktioniert Recherche, wenn man das Land, in dem man recherchiert, aufgrund drohender politischer oder strafrechtlicher Verfolgung nicht betreten kann? Wie kommuniziert man mit Quellen, die man weder persönlich treffen noch anrufen darf?

Der Angriffskrieg Russlands und die damit einhergehenden Verschärfungen des russischen Medienrechts führten zu einem massenhaften Exodus unabhängiger russischer Medien. Viele dieser Medien setzen ihre Berichterstattung nun aus dem Exil heraus fort und sind dabei mit der Frage konfrontiert, wie man an Themen dranbleibt, wenn man selbst nicht mehr vor Ort sein kann. Auf dem Panel „Nah dranbleiben, ohne vor Ort zu sein – Recherchemethoden russischer Journalist:innen im Exil“ wurde diese Frage aus drei sehr unterschiedlichen Perspektiven diskutiert.

ÜBER DEN KRIEG BERICHTEN

Ekaterina Fomina vom investigativen Medium IStories hat sich seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine auf Recherchen zu Kriegsverbrechen spezialisiert. Sie setzt weiter auf direkte Kommunikation und Recherchen vor Ort. Ihre Geschichte über einen russischen Soldaten, der öffentlich zugab, in der Ukraine einen Zivilisten getötet zu haben, hat große internationale Aufmerksamkeit erregt. Nach der Veröffentlichung des Videotelefonats mit dem Täter setzte sie ihre Recherche in der Ukraine fort, wo sie die Familie des Getöteten ausfindig machen konnte.

„Ich war überrascht von der Offenheit der Ukrainer:innen, insbesondere von denen, deren Angehörige von Russen getötet wurden. Sie unterscheiden zwischen uns, die recherchieren, und denen, die sie überfallen haben.“
Ekaterina Fomina, Investigative Journalistin IStories

DATENBASIERTE RECHERCHEN

Das investigative Medium Agentstvo arbeitet zunehmend mit datenbasierten Recherchemethoden. Nur so können vertrauenswürdige Inhalte produziert werden, ohne Menschen vor Ort in Gefahr zu bringen:

„Seit der Verschärfung der russischen Mediengesetze ist es viel komplizierter geworden, mit unseren Quellen Kontakt aufzunehmen. Vor allem die Kommunikation mit offiziellen Quellen wird schwieriger. Gleichzeitig werden offizielle Quellen immer weniger vertrauenswürdig. Darum konzentrieren wir uns mehr und mehr auf Dateninstrumente wie OSINT.“
Chefredakteur Agentstvo

AGENTUR FÜR JOURNALIST:INNEN VOR ORT

Eine ganz eigene Strategie verfolgt das 2022 im lettischen Exil von Mikhail Danilovich mitgegründete Medium Nowaja Wladka / The New Tab, welches sich auf Geschichten aus verschiedenen Regionen Russlands spezialisiert. Das ist ohne Kontakte vor Ort nicht möglich. Darum kooperiert The New Tab mit freien Autor:innen in Russland, mit denen sie gemeinsam recherchiert und publiziert.

„Wir sind ein Fenster nach Russland, und das ist wichtig. Wir konzentrieren uns auf Menschenrechtsverletzungen in Russland und die Berichterstattung zu russischen Regionen, denn diese Dinge verschwinden auch während des Krieges nicht.“
Mikhail Danilovich, Mitgründer und Leiter von The New Tab

Nicht alle dieser Autor:innen sind erfahrene Journalist:innen, weshalb The New Tab ihnen Mentoring-Programme anbietet und Kontakte zu Redakteur:innen vermittelt. Das operative Geschäft wird im Exil geführt, von wo aus neue Distributionswege und Kooperationen mit anderen Medien hergestellt werden können.

KEINE MONETARISIERUNGSOPTIONEN IN RUSSLAND

Ungeachtet dessen, welche Strategien ein russisches Exilmedium verfolgt oder wie erfolgreich seine Publikationen sind – es gibt derzeit keine Möglichkeiten, den Betrieb mit einem russischen Publikum zu monetarisieren. Die Blockierung aller unabhängigen Medien im Land wirkt sich nicht nur negativ auf die Auffindbarkeit der Inhalte aus. Große Technologieunternehmen wie YouTube haben die Möglichkeit, mit journalistischen Inhalten Geld zu verdienen, fast vollkommen abgeschafft.

„Das Modell der unabhängigen Medien in Russland wurde zerstört, es gibt keine Einnahmequellen mehr. Wir sind aktuell alle auf externe Finanzierung angewiesen.“
Chefredakteur, Agentstvo

Guter Journalismus kostet Geld und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle braucht Zeit. Um zu Überleben und Menschen in Russland weiterhin Zugang zu unabhängigen Informationen zu gewähren, ist die russische Exilmedienlandschaft aktuell auf finanzielle und strukturelle Unterstützung angewiesen. Andernfalls gewinnen Propaganda und Zensur.

Das Panel wurde von der NDR-Redakteurin und Autorin Mareike Aden moderiert und vom JX Fund organisiert.