Wie Medienschaffende im Exil unabhängige Berichterstattung aufrecht erhalten

  • Mai 3, 2024
  • News

Die Lage der Pressefreiheit hat sich im weltweiten Vergleich weiter deutlich verschlechtert. Dies geht aus der Rangliste der Pressefreiheit 2024 von Reporter ohne Grenzen (RSF) hervor. Ist die Pressefreiheit in einem Land stark eingeschränkt, sind Exiljournalist:innen meist die einzigen, die noch in der Lage sind, die Bevölkerung vor Ort mit unabhängigen Informationen zu erreichen. Gleichzeitig sind sie durch ihre Kontakte zu Quellen und Journalist:innen vor Ort oft die letzten, die eine globale Öffentlichkeit mit Informationen aus autoritär regierten Ländern versorgen können. Ohne Exilmedien wäre eine Berichterstattung aus diesen Ländern nicht mehr möglich, Desinformation, Propaganda und Zensur würden siegen.

Dabei leisten Exilmedienschaffende diese wichtige Arbeit meist aus einer prekären Situation heraus: Die Arbeitsbelastung ist hoch, die Teams klein, die Finanzierung unsicher. Zwischen Sprachkurs und Wohnungssuche müssen sie sich um Finanzierungen bewerben, Sicherheitskonzepte schreiben, Distributionsstrategien entwickeln, staatliche Blockaden und Repressionen umgehen, und immer wieder Wege finden, ihr Publikum zu erreichen, das von schlechten Neuigkeiten, Krieg und Krise oft nichts mehr wissen will.

Der JX Fund fördert und unterstützt die diverse und innovationsfreudige Exilmedienlandschaft strukturell und finanziell, sammelt und kuratiert Wissen über die Bedürfnisse von Exilmedienschaffenden, vernetzt, vermittelt, und führt regelmäßig Studien und Erhebungen über die Bedarfe und Errungenschaften Exilmedienschaffender durch. In den vergangenen zwei Jahren haben wir die Exilmedienszenen aus Afghanistan, Belarus und Russland genauer untersucht.

AFGHANISTAN: PREKÄR, ABER LEBENDIG

Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 hat sich die Situation der Medienschaffenden in Afghanistan dramatisch verschlechtert. Im Vergleich zum Vorjahr ist Afghanistan im Index der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen um 26 Plätze abgestürzt und befindet sich aktuell auf dem drittletzten Platz, nur noch gefolgt von Syrien und Eritrea. Das ist besonders bemerkenswert, weil das Land 2020 – ein Jahr vor der Machtübernahme der Taliban – noch über eine vielfältige und lebendige Medienlandschaft verfügte: vor der Machtübernahme waren 543 Medienunternehmen – von Print-Zeitung bis Fernsehsender – in Afghanistan aktiv.

Zwar war die Situation unabhängiger afghanischer Medienschaffender schon zuvor in vielerlei Hinsicht prekär, so war sie gleichzeitig sehr divers und auf dem Weg der Professionalisierung. Doch innerhalb der ersten drei Monate nach der Machtübernahme verloren 60 Prozent der afghanischen Medienschaffenden – und 84 Prozent der weiblichen Medienschaffenden – ihren Job; 231 Medien wurden geschlossen. Ein Grund für die Schließungen war neben restriktiven Maßnahmen der Taliban – insbesondere gegen weibliche Journalistinnen – auch die hohe Abhängigkeit der afghanischen Medienlandschaft von ausländischen Geldern, die nach der Machtergreifung durch die Taliban zu großen Teilen gestoppt wurden. Infolgedessen haben viele afghanische Medienschaffende das Land verlassen und führen ihre journalistische Tätigkeit aus dem Exil fort.

Während einige der größeren, unabhängigen afghanischen Medien ihre Zielgruppen in Afghanistan weiterhin erreichen, hat ein Großteil der afghanischen Journalist:innen im Exil zu kämpfen: In einer nicht-repräsentativen Umfrage, die der JX Fund im Dezember 2023 mit 154 afghanischen Journalist:innen aus 14 verschiedenen Ländern durchgeführt hat, gaben 65% der Befragten an, dass sie derzeit keine professionelle journalistische oder mediale Tätigkeit ausüben. Nur etwa 13% der Teilnehmer gaben an, dass sie für ein Exilmedium arbeiten, während 34% planten, ein Exilmedium zu gründen. 54% geben an, dass sie an keinem Exilmedium beteiligt sind. Vielen Befragten fehle im Exil laut eigenen Angaben schlicht das Geld, um journalistisch arbeiten zu können und selbst von den wenigen, die noch in den Medien arbeiten, ist die große Mehrheit auf zusätzliche Einkommensquellen angewiesen.

BELARUS: UNTERDRÜCKT, ABER RESILIENT

Dreieinhalb Jahre sind seit der gewaltsamen Unterdrückung der Revolution in Belarus 2020 vergangen. Die darauffolgenden, intensiven Repressionen führten zu einer massiven Vertreibung der verbliebenen unabhängigen Medienschaffenden aus Belarus. Doch auch im Exil ist die Lage für belarusische Medien in vielerlei Hinsicht prekär: Neben der finanziell angespannten Situation, ist es eine große Herausforderung, die Verbindung zu den Zielgruppen vor Ort aus dem Exil aufrechtzuerhalten. Websites und soziale Medien sind zu großen Teilen blockiert und Bürger:innen in Belarus drohen Strafen, wenn sie „extremistische Inhalte“ teilen oder ansehen.

Während Journalist:innen inhaftiert, Websites blockiert und Nutzer:innen unabhängiger Medien bedroht werden, ist es erstaunlich, dass belarusische Exilmedien überhaupt noch ein Publikum im Land erreichen. Doch all dieser Herausforderungen zum Trotz werden unabhängige Medien aus Belarus von ihrem Publikum nach wie vor sehr geschätzt: Laut einer aktuellen Studie des JX Fund verzeichneten die fünf größten Websites im Dezember 2023 über 17 Millionen Besuche. Im gleichen Monat betrug die durchschnittliche Verweildauer auf den Websites der führenden belarusischen Medien über 10 Minuten. Diese Zahlen belegen, dass die belarusische Bevölkerung objektive und vertrauenswürdige Berichterstattung nach wie vor sehr schätzt – und dass, obwohl der Staat im Jahr 2023 schätzungsweise 50 Millionen Euro für Propaganda ausgab.

Trotz dieser enormen Erfolge sind unabhängige belarusische Exilmedien aktuell so bedroht wie nie. Es mangelt vor allem an finanzieller Unterstützung und internationaler Aufmerksamkeit. Innerhalb kürzester Zeit ist Belarus weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden– und dass, obwohl die Unterdrückung der Pressefreiheit im Land nie so extrem war wie zum aktuellen Zeitpunkt. Aktuell befindet sich Belarus im Ranking der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 167 von 180, zehn Plätze niedriger als im Jahr zuvor.

RUSSLAND: KREATIV GEGEN STAATLICHE REPRESSIONEN

Russland stieg 2024 im Ranking zwar um zwei Plätze auf, hat aber im Gesamtranking im Vergleich zum letzten Jahr fast fünf Punkte verloren. Der Aufstieg ergibt sich laut RSF nur aus der Verschlechterung anderer Staaten. Zwei Jahre nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben sich mehr als 90 russische Medien im Exil etabliert. Laut einer Studie des JX Fund hat sich neben Georgien, Lettland und den Niederlanden auch Deutschland zu einem der bedeutendsten Standorte für Exilmedienschaffende aus Russland entwickelt: Etwa ein Drittel der im Exil ansässigen russischen Medienorganisationen arbeitet mit Mitarbeiter:innen zusammen, die in Deutschland leben.

Die russische Exilmedienszene ist kreativ, innovativ und entwickelt sich stetig weiter. Trotz der räumlichen Trennung von ihren Zielgruppen und den erschwerten Bedingungen der Berichterstattung aus dem Exil erreichen russische Exilredaktionen mit ihren unabhängigen Medieninhalten schätzungsweise insgesamt 6 bis 9 % der erwachsenen russischen Bevölkerung. Allein im September 2023 verzeichneten unabhängige russische Exilmedien rund 38 Millionen Website-Besuche und fast 165 Millionen Aufrufe auf YouTube.

Das Fortbestehen unabhängiger russischer Medien ist ein großer Erfolg für die russische Exilmedienszene und für die globale Öffentlichkeit. Doch vielen fehlt eine langfristige finanzielle Perspektive. Darüber hinaus haben die Medien nach wie vor mit einer Vielzahl operativer Probleme zu kämpfen – von der Sicherung eines dauerhaften Standorts für das Medienunternehmen und seine Mitarbeiter:innen bis hin zum Umgang mit den Auswirkungen von Zensur, Blockaden und anderen Formen der Repressionen im Land – und über seine Grenzen hinaus–, die sich erheblich auf die Sicherheit der Medienschaffenden selbst als auch auf die Erreichbarkeit ihrer Zielgruppe auswirken.

ÜBER DEN JX FUND

Um ein Exilmedium am Laufen zu halten, braucht es ein ganzes Ökosystem aus Autor:innen, Redakteur:innen, Medienmanager:innen, ITler:innen, Fundraiser:innen etc. Exilmedien müssen häufig mit wenig Geld auskommen und sich immer wieder neuen Herausforderungen anpassen. Damit Exilmedien dauerhaft überleben können, ist eine Ausweitung der Unterstützung und die Entwicklung systemischer Lösungen notwendig, was wiederum ein tieferes Verständnis der Bedürfnisse der Medien und der Branchentrends voraussetzt. Zu diesem Zweck führt der JX Fund regelmäßig mehrdimensionale und kontinuierliche Studien und Umfragen über die Entwicklung und die Bedürfnisse der Medien im Exil durch und stellt die Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung.

Der JX Fund – European Fund for Journalism in Exile unterstützt Medien und Journalist:innen, die aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind, damit sie ihre Arbeit im Exil schnell und flexibel fortsetzen können. Seit seiner Gründung im April 2022 hat er 55 Medien bei der Aufnahme ihrer Arbeit im Exil unterstützt. Mehr als 1.600 Journalist:innen konnten davon profitieren. Als gemeinsame Initiative von Reporter ohne Grenzen, der Rudolf-Augstein-Stiftung und der Schöoepflin-Stiftung wird der JX Fund von einem breiten Bündnis aus Medien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und einem umfangreichen Spender:innenpool getragen.